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Krach für Kenner!

Radio Brennt! #178 mit The Courettes (Garage Punk)

Die Courettes aus Brasilien und Dänemark sind bereits zum dritten Mal in unserer Sendung zu Gast und gehören zu unseren absoluten Lieblingsbands. Dieses Mal haben Kim und Alex sie im nagelneuen Molotow, einst der legendäre Top Ten Club, an der Reepernbahn vor ihrer Show im April 2025 getroffen und ein ausführliches Interview geführt.

English Version:

Deutsche Version:

Playlist:

#Artist nameTrack name
1Die ÄrzteRadio Brennt!
2The CourettesShake!
3The CourettesYou Woo Me
4The CourettesBoom Boom Boom
5The CourettesCalifornia
6The CourettesStop! Doing That
7The CourettesKeep Dancing
8The BeatlesLove Me Do
9Elvis vs. JXLA Little Less Conversation

Komplettes Interviewtranskript auf Deutsch übersetzt:

Alex (Radio Brennt!): Hallo und herzlich willkommen zu einer neuen Sendung von Radio Brennt hier bei Ti de Radio. Ich bin Alex und ich habe meine Kollegin Kim dabei. Wir sind im nagelneuen Molotow Club. Unten im Molotow Club, in der neuen Top 10 Bar. Ich glaube, das ist jetzt der dritte oder vierte Laden, in dem das Molotow schon war.
Flavia (The Courettes): Ja, mindestens drei. Könnten vier sein, aber mindestens drei. Wir haben schon in dreien gespielt.
Alex: Ja, und wir haben eine Band hier, die schon zweimal bei unserer Show war: The Courettes. Welches Molotov war euer Favorit?
Martin (The Courettes): Ich glaube, ich mag das neue hier am liebsten. Es ist gemütlicher. Die Inneneinrichtung ist cooler. Ich finde, es hat eine etwas bessere Atmosphäre. Die anderen legendären Orte haben mir gefallen, aber das hier ist ein ganz anderes Level. 
Flavia: Ehrlich gesagt, ich habe alle Molotovs geliebt, in denen ich gespielt habe.
Alex: Dies ist auch ein legendärer Ort, weil die Beatles schon hier gespielt haben. Der Top 10 Club. Ja, aber ihr habt eine neue Platte mit dem Titel „The Soul of the Courettes“ herausgebracht. Warum heißt sie so? Liegt es daran, dass ihr noch mehr Soul hineingelegt habt? Oder ist es eher eine Soul-Platte? Oder beides?
Flavia: Beides, ja. Wir haben viel Ike & Tina Turner und Motown gehört. Wir haben eine großartige erste Tour durch die USA gemacht und sogar das Studio A von Motown besucht, die Motown Studios. Soul war schon immer Teil unserer musikalischen DNA. Aber wir dachten, wir könnten ihn auf diesem Album etwas stärker in den Vordergrund stellen. Andererseits ist es textlich auch etwas mehr Soul-lastig. Im Vergleich zu den anderen ist es ein Album, das mehr nach Seele hat. Es ist also eigentlich beides.
Alex: Also legt Ihr auch textlich noch mehr Seele in Eure Texte? Ich finde, das hat bei manchen Songs auch einen großen Pop-Appeal.
Martin: Ja, das das stimmt. Die Texte sind viel persönlicher. Wir haben auf den alten Platten immer viel versteckt. Es hatte dann eine tiefere Bedeutung. Aber mit diesen Texten hier ist es leichter zu verstehen, sie sind leichter zugänglich. Wir haben aber auch den Pop-Sound verstärkt, weil wir einen Kontrast zu den viel düstereren Texten auf diesem Album wollten. Man kann total traurig sein und trotzdem im Top-Ten-Club tanzen. 
Kim (Radio Brennt!): Wenn es um das Schreiben verschiedener Alben geht, ist jedes Album irgendwie anders? Was kommt zuerst, wenn Ihr Musik schreibt? Die Musik, die Texte – ist das bei jedem Album anders oder ist es immer ein ähnlicher Weg, neue Songs zu kreieren?
Flavia: Ich würde sagen, jeder Song entsteht anders. Manchmal ist es nur die Melodie, manchmal habe ich den Text fertig, manchmal nur ein Riff. Wir haben versucht, Songs auf alle möglichen Arten zu schreiben. Es hat sich also nicht von Album zu Album verändert. Ich denke, unsere Art zu produzieren hat sich seit unserem ersten Album weiterentwickelt. Wenn wir zurückblicken, haben wir viel darüber nachgedacht, über diese tiefere Suche nach der Seele. Wir haben „Strawberry Boy“ auf unserem zweiten Album, ein sehr tiefgründiges Lied, das unserem Sohn gewidmet ist. Wir haben also auch einige persönliche Sachen auf unseren Alben, aber ich habe das Gefühl, dass wir dieses Mal tiefer eintauchen, tief in unsere Seelen, tief in unsere Herzen. Aber ja, ich glaube, der Songwriting-Prozess ist nicht mehr ganz derselbe wie am Anfang. Das erste Album habe ich im Grunde selbst geschrieben, und beim zweiten Album kam Martin dann auch mit vielen Ideen. Und jetzt haben wir wieder mit Søren Christensen zusammengearbeitet, einem großartigen Musiker und Songwriter. Bei „Back in Mono“ war er das erste Mal dabei. „Back in Mono“ war ein sehr konzeptionelles Album. Vielleicht haben wir dabei etwas anders gearbeitet. Wir wollten eine Wall of Sound kreieren. Wir haben ja sogar extra ein Studio gebaut, um die Wall of Sound zu emulieren. Und damals haben wir das Studio als Instrument entdeckt. Es war ein sehr wichtiges Album für uns. Und jetzt haben wir im selben Studio mit denselben Techniken aufgenommen. Jetzt können wir sie frei nutzen. Wir müssen nicht noch mal zu 100 Prozent Girlgroup Sound machen. Wir können also den gleichen Aufnahme- und Produktionsprozess für das Album verwenden, sind aber freier und können zum Beispiel mehr Soul hineinbringen. Ich denke, es ist alles Teil einer musikalischen Entwicklung. Unsere fünf Alben, die wir bisher produziert haben, sind Teil einer musikalischen Reise.
Kim: Wie bringt Ihr euren Sound auf die Bühne mit nur zwei Leuten? 
Flavia: Wir kompensieren das mit Energie. Dann werden wir zu Superwoman und Superman. So machen wir das.
Alex: Ich habe aber mitbekommen, dass Ihr eine Zeit lang mit einem Bassisten zusammengearbeitet habt. Was ist aus ihm geworden?
Martin: Also, ja, die Sache ist die: Wir lieben David, aber wir spielen viele Konzerte. Es ist schwer, einen Bassisten zu finden, der hundert, hundertzwanzig Konzerte im Jahr spielen kann. Er ist immer noch da und definitiv nicht vergessen. 
Flavia: Dave ist ein großartiger Bassist und hat super in die Band gepasst. Aber er hat zwei kleine Kinder und einen Job. Er kann nicht hundertzwanzig, hundertvierzig Konzerte im Jahr spielen. Für uns war es also etwas schwierig, mal als Duo, mal als Trio und dann wieder als Duo zu spielen. Und wir haben andere Lösungen für den Bass gefunden. Ich spiele auch alle Bass-Parts auf dem Album ein. Wir denken also, dass es in Zukunft definitiv eine gute Idee sein kann, andere Musiker an Bord zu haben, Dave und vielleicht noch jemand anderen. Aber er war Teil der Back in Mono-Tour. Es machte damals also sehr viel Sinn. Wir probieren also immer verschiedene Dinge und verschiedene Auftrittsweisen aus. Ja. Und wir lieben dich, Dave.
Alex: Ihr seid ständig auf Tour. Und ihr seid auch ein verheiratetes Paar. Ich frage mich immer: Ihr wohnt zusammen, habt ein gemeinsames Kind, arbeitet zusammen. Ihr seid bestimmt ständig zusammen. Gibt es denn nie einen Moment, in dem Ihr denkt: „Ich brauche mal Zeit für mich allein? Ich kann dich nicht mehr sehen.“ Was machst Ihr dann?
Flavia: Wir haben verschiedene Hotelzimmer. Nein, nur Spaß. Wir haben getrennte Tourbusse. Nein, auch Spaß. Wir glauben, dass es daran liegt, dass wir so weit voneinander entfernt waren. Wir haben zwei Jahre lang 10.000 Kilometer voneinander entfernt gelebt, während wir zusammen waren. Das haben wir kompensiert. 
Martin: Und auch, dass wir jetzt eine Familie sind. Man muss schon sehr gut miteinander umgehen. Deshalb achten wir sehr darauf, einander Freiraum und vor allem viel Respekt zu geben. Und natürlich diskutieren wir, wir diskutieren viel, denn Touren ist hart. Zur Info für Leute, die noch nie auf Tour waren: Das ist echt Hardcore. 
Flavia: Jede Band ist wie eine Familie. Und wie eine Ehe. Für uns ist die Band die Ehe. Wir haben bereits Erfahrungen mit anderen Bands zuvor gemacht. Wir wissen also, wie hart es sein kann und wie sich Tourneen auf die persönlichen Beziehungen in einer Band auswirken können. Wir sind mit dieser Erfahrung zu diese Band gekommen. Wir wissen, wie müde und gestresst Menschen sein können, wenn sie nicht zu Hause sind, und wie sich das sehr negativ entwickeln kann, wenn man sich nicht umeinander kümmert und respektiert. Ich denke, es hilft uns sehr, dass wir bereits Erfahrung mit anderen Bands gemacht haben und wissen, dass es leicht schiefgehen kann. Deshalb sind wir einfach sehr vorsichtig und versuchen, dieses Besondere, das wir haben, zu bewahren. Ja. Ich denke, es ist ziemlich wichtig, sich des Risikos bewusst zu sein, das entsteht, wenn man die ganze Zeit so nah beieinander ist und alles gemeinsam macht.
Kim: Habt ihr Rituale für eure gemeinsamen freien Tage oder vielleicht Rituale zum Runterkommen, zum auftanken?
Flavia: Wir waren gerade einen ganzen Monat in Brasilien. Auf einer Insel, direkt am Strand. Das war fantastisch. Aber normalerweise, wenn wir so viel auf Tour sind, weiß ich in den ersten Tagen nicht, was wir machen. Wir müssen unsere Wäsche waschen oder so. Wir haben Momente der totalen Entspannung. Ich glaube, wir können immer besser sagen: „Okay, diesen Monat keine E-Mails oder so.“ Für alle Künstler, für Leute, die mit Kunst arbeiten, ist es sehr schwer zu definieren, wann man mit der Arbeit fertig ist. Man hat keinen normalen Job wie normale Leute, wie auch immer man sie nennt, die von neun bis vier arbeiten. Und zu Hause denken sie nicht an ihre Arbeit. Wir denken ständig über Musik nach, wir denken über Ideen nach, wir denken über Logistik nach. Es ist auch eine Art Wissenschaft, die man lernen muss: „Okay, jetzt sind Ferien.“ Das E-Mail-Programm ist geschlossen, und wir reden überhaupt nicht über Musik. Ich denke, es ist diese Balance, die wir anstreben. Wir werden dadurch viel besser. Normalerweise ist es toll, an einen Ort zu gehen, wie zum Beispiel nach Hawaii. Das Handy auszuschalten ist ein sehr schönes Entspannungsritual.
Kim: Noch eine Frage in diese Richtung. Erinnert Ihr Euch an den Moment in eurem Leben, als euch klar wurde: Okay, wir können von unserer Musik leben, keine beschissenen Nebenjobs mehr? Wie habt Ihr das gemerkt? Wie hat es sich angefühlt?
Martin: Es kam ganz natürlich. Es passierte nicht von heute auf morgen. Es sind jetzt ungefähr sieben, acht Jahre vergangen, von vielleicht zehn Jahren, seit wir wirklich nur noch das gemacht haben. Und es kam ganz natürlich. Es ist nichts, was man mit einem Datum oder einem Jahr festmachen kann.
Flavia: Auch die Musik kam in mein Leben, zum Beispiel auf ganz natürliche Weise.
Martin: Ich glaube, als wir von einem nicht ganz so schlechten zu einem richtig guten Label gewechselt sind. Als wir zu Damage Goods Records wechselten, konnten wir definitiv feststellen, dass wir plötzlich Tantiemen bekommen haben. Genau.
Flavia: Es gab das erste mal so etwas wie Tantiemen. All die Jahre wurden wir nicht richtig bezahlt. Die richtigen Partner zu haben, hilft ungemein. Musiker verdienen ja das meiste Geld mit ihren Auftritten. Aber wir haben die Plattenverkäufe, wir haben die Tantiemen. Also, wenn man cleverer wird und sagt: „Okay, ich habe tatsächlich ein Anrecht auf dieses Geld.“ Ich denke, die Musiker sollten sich auch darüber informieren, wie sie an das Geld kommen, das ihnen gehört, denn sonst kommen andere, die sich im Geschäft besser auskennen, und nehmen es sich. Ich denke, es war eine natürliche Entwicklung, als wir plötzlich die richtigen Partner hatten. Martin ist zwar auch Grafikdesigner, aber freiberuflich. Aber jetzt können wir von der Band leben. Es kam ganz natürlich, dass Martin irgendwann gar keine Zeit mehr hatte, freiberuflich Grafikdesign für andere zu machen. Und dann sagen wir plötzlich: „Na ja, das ist halt jetzt unser Job.“ Also, ja, schrittweise kam das. Und es war sehr viel harte Arbeit.
Alex: Und Sie expandieren weiter, zum Beispiel in die USA. Dort wart Ihr zuletzt gerade auf Tour. War es das erste Mal oder wart Ihr schon einmal dort?
Flavia: Wir touren seit 2023 in den USA. Das ist also etwas nicht mehr ganz Neues für uns. Wir sind gerade von einer Westküstentour zurückgekommen und haben beim South by Southwest Festival gespielt. Es ist das dritte Mal, dass wir dort gespielt haben. Wir sind gerade im März erst zurück gekommen. Es ist ein fantastischer Markt, abgesehen natürlich vom Präsidenten. Es ist unglaublich, wie gut sie unsere Musik verstehen. Und, weißt du, der Blues hat dort angefangen. Mir ging es ein bisschen so, wie auch als wir angefangen haben, durch Großbritannien zu touren. Das ist so toll. Wir haben ein britisches Label. Großbritannien, die Heimat der Beatles und der Rolling Stones, akzeptiert uns tatsächlich als richtige Rockband. Und das obwohl ich aus Brasilien komme und Martin aus Dänemark. Wir sind also sehr stolz darauf, dass sie sagen, diese Band macht großartige Musik. Wenn wir mal darüber nachdenken. Eine Tour durch die USA hat also auch diese Seite: Oh mein Gott, ich bin in Kalifornien. Oh mein Gott. Ich meine, das Motown Studio, wir haben Sun Records besucht. Wir haben die Chess Studios besucht. Wir waren in Memphis. Wir waren in Graceland.
Alex: Das klingt nach einem tollen Sight Seeing Trip
Flavia: Ja. Aber wir haben jeden Tag gespielt und hatten dann mal einen Tag frei in Memphis. Also war alles so: Okay, du hast 30 Minuten. Geh zum Chess Club, zu den Chess Studios. Aber das Publikum ist auch unglaublich. Sie unterstützen die Bands wirklich. Wir haben viel Merch verkauft, als wir dort waren. Es ist ein großer Markt, Texas allein ist größer als Deutschland. Ich sehe darin einen Markt, der für die Band stark wachsen kann, weil die Leute unsere Musik mögen und die Bands wirklich unterstützen wollen, weil sie wissen, von wie weit her wir anreisen.
Alex: Unterscheidet sich das Publikum irgendwie vom Publikum in Europa?
Flavia: Ich weiß nicht. Vielleicht kaufen sie mehr Merch, aber Menschen sind eben Menschen. Ich sehe Menschen nicht als Amerikaner, Deutsche oder Brasilianer. Ich sehe einfach Menschen. Je mehr wir durch die Welt reisen, desto mehr sehen wir, dass Menschen einfach Menschen sind. Sie haben unterschiedliche Hautfarben, unterschiedliche Sprachen, aber das macht keinen Unterschied. Das deutsche Publikum zum Beispiel ist groovy. Das spanische Publikum auch. Manche Länder machen mehr Spaß als andere, aber ich finde, die USA sind so groß. Sie haben unterschiedliche Bundesstaaten, unterschiedliche Vibes. So viele gute Bands kommen aus den USA. 
Martin: Reden wir auch über Dänemark. Es ist nicht so, dass wir die meisten supertollen Bands exportieren. Die USA haben eine andere Kultur, viele gute Bands von dort dominieren die Radiosender weltweit. Diese musikalische Geschichte, die sie haben, ist etwas, das viele Leute unsere Musik so mögen lässt. Rock and Roll.
Kim: Eine ähnliche Folgefrage dazu. Ich glaube, es ist kein Geheimnis, dass die Retro-Musikszene in Deutschland ziemlich unter dem Radar läuft. Es gibt zwar diese Hotspots in verschiedenen Städten, aber ich glaube, man kann nicht wirklich sagen, dass sie Mainstream ist. Merkt Ihr auf euren Touren signifikante Unterschiede zwischen den verschiedenen Ländern? Ist die 60s Retro-Szene woanders auch stärker, zum Beispiel auf internationalen Festivals oder so?
Flavia: Ich glaube, es ist überall eine Nische. Ich sehe keine 60s Band in den Charts. Natürlich schaffen es manche von den 60s beeinflusste Bands in den Mainstream, aber es ist keine Szene, die in irgendeinem Land total Mainstream geworden ist. Ich denke, was man hier in Deutschland erlebt, ist im Grunde das, was überall passiert. In Deutschland gibt es Hamburg. Und auch das Garageville Festival. Aber ich denke, das Gute an unserer Band ist, dass wir uns manchmal in verschiedenen Blasen bewegen. Wir waren für Ska-Festivals, Rockabilly-Festivals und Surf-Festivals gebucht. Und tatsächlich finden die Leute dort auch gut, was wir machen. Darauf bin ich wirklich stolz, obwohl die 60s meine Leidenschaft sind. Ich bin damit aufgewachsen. Ich lebe damit, aber wir sind beide ehrgeizig. Wir wollen, dass mehr Leute unsere Musik hören. Wenn wir also auf einem großen Mainstream-Festival spielen, wollen wir diese Kultur den Leuten näherbringen. Vielleicht hatten sie bislang nicht die Gelegenheit, sie kennenzulernen. Wir sind also sehr offen dafür, mit verschiedenen Bands und verschiedenen Stilen zu spielen. Als ich in Rio aufwuchs, war es ähnlich. Man war anders als die anderen, egal ob man Punk, Rockabilly oder Garage war. Wir waren auf vielen Festivals. Eine Band war Metal, die andere Garage. Es war ein bisschen wie „Wir gegen die anderen“. Ich finde, Gegenkultur sollte mehr Platz in der Gesellschaft haben. Je mehr wir sie den Menschen näherbringen können, die sie nie erlebt haben, desto besser. Das liegt vor allem an den Radios. 
Martin: Vor 20 Jahren spielten die Radiosender weltweit White Stripes, Jet, The Hives und all diese großartigen Rock’n’Roll-Bands. Die Medien haben es einfach so aufgegriffen. Und all diese Bands haben heute noch eine Karriere. Sie hatten so viel Aufmerksamkeit, dass sie auch 25 Jahre später noch Fans haben. Das Interesse ist groß. Die Leute wollen es hören, aber sie müssen wissen, dass es existiert und sie es kennenlernen können. Die verschiedenen Bands existieren erst in den Köpfen, wenn die Radios die Musik für so viele Menschen spielen. 
Flavia: Es ist das Mainstream-Radio, das im Grunde genommen überhaupt keine alternative Kultur spielt. Nirgendwo. Wir haben euch, was großartig ist. Radio Brennt! Es ist schwer ein Publikum aufzubauen. Wenn wenn man nicht weiß, dass ein Genre existiert, wie soll man dann überhaupt Platten kaufen? Wie soll man zu den Konzerten gehen? All das zu fördern ist also auch sehr wichtig. Ich meine, die Ausbildung neuer Musiker, einer neuen Generation von Musikern. Wo immer wir gerade gespielt wurden, war „California“ der coolste Song der Welt. Little Stevens Garage. Er macht das auch. Er hat einen Namen und will der Welt die Bands zeigen. Jede noch so kleine Arbeit trägt dazu bei, Vielfalt in der Musik zu schaffen, die nicht nur KI-generierter Pop oder Radio-Pop ist, der die Leute erreicht. Damit die Leute tatsächlich eine Wahl haben. Wenn sie diese Art von Musik hören wollen, dann weil sie sich dafür entschieden haben, und nicht weil sie denken, es sei die einzige Musik, die es auf der Welt gibt.
Kim: Noch eine Frage in Richtung Sixties. Mich würde sehr interessieren, wie Ihr ursprünglich damit in Kontakt gekommen seid. Mit der Musik der Sixties, dem Design der Sixties oder mit Subkulturen im Allgemeinen.
Martin: Wir sind beide mit den Schallplatten unserer Eltern aus den Sechzigern aufgewachsen, von den Beach Boys, den Beatles, den Doors, den Kinks, den Stones – all dem sind wir als Kinder ausgesetzt. Ich glaube, das prägt uns sehr. 
Flavia: Bei mir fing es eigentlich mit den Beatles an. Meine Mutter hatte die Compilation-Platten, die rote und die blaue. Als ich sie das erste Mal hörte, dachte ich: Oh mein Gott! Und ich fand sie so cool. Ich erinnere mich noch, ich war in der Disco. Ich bin schon sehr früh ausgegangen. Ich hoffe, meine Mutter hört das nicht. Aber da lief ständig Strawberry Fields, zusammen mit all den Gitarrenbands von damals, den Indie-Bands der Neunziger. Und es klang einfach unglaublich toll. Und ich dachte: Was ist das für eine Band? Na ja, die Beatles. Aber das war etwas später, als ich ungefähr zwölf war. Aber ich erinnere mich auch an Fahrten im Auto mit meiner Tante, wie alle die Beatles-Songs sangen. Und sie sagten Weißt du nicht, Flavia, wie die Beatles-Texte gehen? Ich dachte nur: Oh mein Gott, die Beatles, was ist das? Ich glaube, die Beatles haben vieles ins Rollen gebracht. Und ich war schon immer neugierig. Meine Tante war ein großer Stones-Fan. Dann kamen die Doors, Forrest Gump, wo die Byrds vor kamen. Und dann ging ich zu den Seeds. Und dann gab es in Rio, meiner Heimatstadt, eine ganze Szene, wo die Leute total drauf abfuhren.

Und Gitarrenbands und dort auch die Verbindung zu den Sechzigern. Denn wenn man zum Beispiel The Jesus and Mary Chain hört, die sind auch sehr von den Sechzigern inspiriert. Ich meine, die Beatles haben mir alle Türen geöffnet. Und dann gab es die Beat-Autoren, Jack Kerouac und Allen Ginsberg und die ganze Kultur drumherum.

Plötzlich öffnete sich eine andere Welt, jenseits der kleinen Welt der Schullangweile. Wo an meiner Schule alle gleich waren, alle die gleichen Klamotten trugen. Alle hörten die gleiche Plastikmusik. Und plötzlich öffnete sich die Tür zu: Wow, es ist möglich, anders zu sein. Ich verliebte mich in all die Themen der Sechziger, wie das Hinterfragen der Männlichkeit, das Freisein und das Loslassen aller Dogmen der normalen Gesellschaft oder wie auch immer man das nennt. Das berührte mich tief im Herzen und veränderte mein Leben komplett. Man hört die Beatles, dann plötzlich Velvet Underground und dann, wisst ihr, die Seeds und dann die Sonics. Und dann geht man plötzlich zurück in der Geschichte und dann wieder vorwärts in der Geschichte. Die Autos sahen besser aus. Das Design sah besser aus. Alles war besser. Es war eine vordigitale Welt, und die Menschen glaubten wirklich, sie könnten frei sein und die Welt in Frieden teilen. Schade, dass diese Zukunft nie eingetreten ist. Martin sammelt 60s Space Design. So haben sie sich die Zukunft damals vorgestellt. Aber diese Zukunft ist nie eingetreten. Wir sagen gerne, dass wir in dieser Zukunft in einem Paralleluniversum leben. Wenn diese Zukunft tatsächlich stattgefunden hätte, in der die Menschen in Frieden in den Häusern im Weltraumzeitalter leben würden, dann wäre das der Ort, an dem wir jetzt gerne wären. Unsere eigene alternative Realität.
Alex: Kurze Geschichte über die Musik der Sechziger, die wir da gerade bekommen haben. Kommen wir zurück zum Heute. Mir ist aufgefallen, dass Flavia eine neue Gitarre hat. Wir haben in unserem ersten Interview über deine alte rote Gitarre gesprochen. Was hat es also mit der neuen auf sich? Sie sieht aus wie die gleiche in Weiß. Ist es auch dieselbe?
Martin: Ja. Fast gleich. Fast gleich. Kleine, kleine Unterschiede. Es ist immer noch die von Billy Childish entworfene Gitarre. Wir durften sie zu Flavias Signature-Gitarre umbauen.
Flavia: Du kannst sie bei Fab Guitars kaufen. Fab Guitars, das ist Fabian, der diese Gitarren gebaut hat. Es ist auch eine Billy Childish Gitarre, wie die rote. Er hat zehn Stück gebaut. Martin hat mir Nummer vier geschenkt. Und ich glaube, danach waren alle Exemplare ausverkauft. Also, ich habe einfach scherzhaft gesagt: „Na, dann bau doch mal meine eigene.“ Er meinte: „Na klar. Mach ich.“ Es gibt jetzt noch zehn weitere davon, ich glaube, vier sind schon verkauft. Du kannst sie also kaufen, aber nicht im Courettes Online-Shop. Sprich einfach mit Fabian.
Alex: Du sagtest, es sei dein eigenes Signature-Modell. Hattest Du da besondere Wünsche?
Flavia: Natürlich ist es immer noch das Billy-Childish-Design, das ich liebe. Es passt perfekt zu meinem Gitarrenspiel. Und dann habe ich ein paar kleine Änderungen vorgenommen, zum Beispiel am Steg und an den Tonabnehmern. Fabian hat es so gemacht wie gewünscht, und ich finde, es klingt großartig und fühlt sich beim Spielen großartig an.
Kim: Machen wir mal eine Spaß-Frage. Wenn Ihr ins Studio gehen und mit einem beliebigen Künstler oder einer beliebigen Band, egal ob lebendig oder tot, einen Song aufnehmen könntet, wer wäre das? 
Martin: Werden wir mit unserem Sohn Songs aufnehmen? Das wäre toll.

Er hat ein wirklich schönes Lied auf dem Klavier gespielt. Das würden wir gerne auswählen.
Flavia: Er ist gerade neun geworden. Und er spielt jetzt seit einem Jahr Klavier. Er saß neulich einfach nur am Klavier und spielte so eine schöne Melodie, zwei Akkorde, richtig gefühlvoll. Wir zwingen ihn also überhaupt nicht. Ich mag Eltern nicht, die ihre eigenen Erwartungen an ihre Kinder weitergeben. Wenn er also Anwalt werden will, ist das für mich in Ordnung, aber er hat seine Freude beim gemeinsamen Musikhören im Auto mit der Familie, wenn wir alle zusammen singen. Ja. Ich kann es aus seinem Alter noch gut nachvollziehen, wie die Gemeinschaft rund um die Musik den Menschen Freude bereitet. Genau so wird man süchtig. Und ich sehe es jetzt bei ihm. Er ist also jederzeit willkommen, einer Band beizutreten, wenn er möchte. Ich denke aber, es muss ganz von selbst kommen.
Alex: Lasst uns ein bisschen über das neue Album sprechen. Ihr sagtet, dass es in einigen Songs ein persönlicheres Album ist als die vorigen. Könnt Ihr vielleicht zu einem Song eine Geschichte erzählen, die dahintersteckt? „California“ zum Beispiel klang für mich wie ein Song über Heimweh. Stimmt das?
Flavia: Es geht darum, die Menschen zu vermissen, die man liebt, wenn man auf Tour ist. Natürlich geht es um unseren Sohn. Es ist einfach toll, dort zu sein. Wow. Ich bin in Kalifornien. Aber es ist, als würde man etwas vermissen. Es ist ein Song über, man könnte es auch Heimweh nennen, einfach über das Vermissen der Menschen, die man liebt.
Martin: Und wir haben „Better without you“, einen Song über die Musikbusiness-Haie. Also ja, wir haben viele Geschichten, und ich glaube, einer der unserer Lieblings-Songs ist „Keep Dancing“. „Keep Dancing“ ist der schwerste Text. Er handelt von Flavias Vater und davon, wie ihre Beziehung jahrelang nicht existent war und wie er Flavia und ihre Schwester im Stich ließ. Und von seinem Tod und davon, wie man versucht, weiterzumachen.
Flavia: Das war ein schwerer Prozess den zu schreiben. Es war schmerzhaft, aber auch sehr befreiend. Deshalb bin ich stolz darauf, denn aus einer insgesamt sehr traurigen Geschichte ist zumindest etwas Gutes entstanden.
Kim: Wenn Ihr diese sehr emotionalen Lieder regelmäßig auf der Bühne spiel, erlebt Ihr dieses Gefühl dann irgendwie noch einmal oder wird es professioneller und ist dann nicht mehr so ​​stark wie damals, als Ihr es geschrieben habt?
Flavia: Es ist beides. Manchmal werde ich bei diesem Song oder anderen wie „Strawberry Boy“, den wir für unseren Sohn geschrieben haben, richtig emotional. Aber da wir so viel spielen, denke ich mir an manchen Tagen eher: „Okay, das ist der Song. Ich will ihn so gut wie möglich performen.“ Und ich denke dann eigentlich gar nicht mehr über den Text nach. Wenn ich richtig in meinem Element bin, dann meine ich jedes Wort des Textes. Da will ich ich sein. Aber ganz ehrlich, es wir spielen Show auf Show. Und ich denke, jeder, der mit Kunst arbeitet, hat immer diesen besonderen Faktor, nicht wahr? Wir können proben, wir spielen die gleichen Lieder, aber es gibt einen Energieaustausch und diesen Überraschungsfaktor: Manchmal ist man im Flow, man ist in der Zone, und manchmal ist man fast da, aber leider nicht wirklich da. Aber das ist der Reiz dessen, was wir tun, oder jeder Art von Kunst. Es ist keine künstliche Intelligenz. Es wird nicht jeden Abend hundertprozentig gleich sein.
Alex: Ich denke, wir sollten zum Schluss kommen. Habt ihr einen Songwunsch fürs Radio? Gibt es einen Lieblingssong, den ihr gerne im Radio hören würdet?
Flavia: Wir hören gerade viel diesen Elvis-Remix aus den Neunzigern.
Martin: Nein, wir nehmen definitiv die Beatles, die frühen Beatles, weil sie hier in diesem Club gespielt haben, der jetzt das neue Molotow ist. Das macht also mehr Sinn. Nehmen wir die frühen Beatles.
Flavia: A Little Less Conversation. Der Remix aus den Neunzigern. Ich lebte 1997 als Teenager mit meiner Tante in London. Und dieser Song, der mich einfach berührt – ich weiß, es ist ein späterer Song –, aber ich erinnere mich einfach an all die gute Britpop-Stimmung dort. Ich meine, aber das ist natürlich nicht aus den Sechzigern.
Alex: Also, ein Beatles-Song, Martin. Was wäre das denn? Willst du die frühen Beatles hören?
Martin: Die frühen Beatles. Wissen wir denn, was sie hier gespielt haben? Na ja, ich weiß es nicht. Sie haben tatsächlich viele Cover gespielt. Welche Songs haben sie hier in Hamburg gespielt? Wir wollen die Setlist.

Ich liebe so viele Songs. Von wann stammt „Love Me Do“? Das ist die allererste Single, oder? Super. Dann nehmen wir „Love Me Do“.
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